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Das Vaterunser oder Unservater (lateinisch Pater noster oder Oratio Dominica, deutsch Gebet des Herrn oder Herrengebet) ist das Gebet, das Jesus von Nazaret nach dem Neuen Testament (NT) seine Nachfolger gelehrt hat. Es ist einer der bekanntesten Texte der Bibel, das am weitesten verbreitete Gebet des Christentums und gehört mit dem Credo und den Zehn Geboten zu den Basistexten, die jeder getaufte Christ lernen und kennen soll.[1] Christen aller Konfessionen beten es in der Fassung nach Mt 6,9-13 EU, die meisten auch im Gottesdienst.
Das NT überliefert zwei Fassungen des Vaterunsers, je eine im Evangelium nach Matthäus (Mt) und im Evangelium nach Lukas (Lk):[2]
Mt 6,9–13 EU | Lk 11,2–4 EU |
---|---|
Unser Vater in den Himmeln, | Vater, |
geheiligt werde Dein Name, | geheiligt werde Dein Name, |
es komme Dein Reich, | es komme Dein Reich! |
es geschehe Dein Wille | |
wie im Himmel auch auf Erden! | |
Unser Brot für den nächsten Tag gib uns heute! | Unser Brot für den nächsten Tag gib uns Tag um Tag! |
Und lass uns nach unsere Verschuldungen, | Und lass uns nach unsere Sünden, |
wie auch wir nachgelassen haben unseren Schuldnern! | denn auch wir lassen nach jedem, der uns schuldet! |
Und bringe uns nicht in Versuchung hinein, | Und bringe uns nicht in Versuchung hinein! |
sondern errette uns von dem Bösen! | |
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen. |
Die beiden Fassungen unterscheiden sich nach Umfang und Wortwahl:
Somit wurde das Gebet eher ergänzt als gekürzt, und die kürzere Lk-Fassung ist eher die ältere. Die Varianten zeigen, dass die Urchristen eher den Inhalt des Gebets in der Sprache der Adressaten weitergeben als einen „echten“ Wortlaut Jesu streng bewahren wollten.[3]
Die Matthäusfassung wurde wohl aus liturgischen Gründen redaktionell um die feierliche Gottesanrede zu Beginn und die Doxologie am Schluss erweitert. Diese kommt auf die Anfangsbitte um das Kommen des Reiches Gottes zurück und gibt die vorausgegangene Zusage Gottes im Munde Jesu gleichsam appellativ an Gott zurück: „Denn Dein ist das Reich…“ Die übrigen Zusätze lehnen sich wohl an Gebetssätze Jesu wie „Dein Wille geschehe“ in Getsemani (Lk 22,42 EU) und „bewahre sie vor dem Bösen“ im „hohepriesterlichen Gebet“ (Joh 17,15 EU) an.[4]
Beide Fassungen sind formal in Anreden und Bitten unterteilt und haben dieselbe Abfolge. Die Anreden („Dein Name – Reich – [Wille]…“) sind als Wünsche im Imperativ formuliert und beziehen sich im Gesamtkontext der Verkündigung Jesu auf Gottes eigene Anliegen und Ziele. Die Beter bejahen diese mit diesen Wunschsätzen zuerst, ordnen ihre eigenen Bedürfnisse also Gottes Anliegen unter.
Dem folgen die Wir-Bitten („Unser…“) um materielle und geistliche Anliegen der Beter (Nahrung bzw. Existenzerhaltung, Vergebung, Bewahrung vor Versuchung). Die materiellen Bedürfnisse sind den geistlichen vorgeordnet, dafür werden letztere breiter behandelt.
Der im Indikativ oder Präsens formulierte Nachsatz („wie auch wir…“) verbindet die Vergebungsbitte an Gott eng mit dem analogen zwischenmenschlichen Verhalten. Damit beteuern und versprechen die Beter, ihren Mitmenschen auch künftig wie Gott zu vergeben bzw. ihnen Schulden zu erlassen. Das macht die Nachahmung Gottes zum Ansatz der Nachfolge Jesu. Dabei wird die Gottesebenbildlichkeit des Menschen (nicht die der ganzen Schöpfung) nach Gen 1,26f. EU vorausgesetzt: Das ganze Menschsein soll ein Hinweis auf das Wesen des Schöpfers sein, einen Rückschluss auf Gott erlauben.[5]
Wie die Wir-Bitten zeigen, wurde das Vaterunser von Anfang an in Gemeinschaft gebetet. Dazu mussten die Beter es auswendig lernen. Die Lukasfassung enthält fünf Bitten, wahrscheinlich um sie an den Fingern einer Hand abzählen und so merken zu können. Die Matthäusfassung enthält sechs oder sieben Bitten, je nachdem ob man den Nachsatz „sondern erlöse uns von dem Bösen“ zur sechsten Bitte zählt (so Martin Luther) oder als eigene siebte Bitte auffasst (so Johannes Calvin). Sie lässt sich ohne die Doxologie in zehn Zeilen oder Sprecheinheiten einteilen. Dabei fallen die beiden Hälften genau mit dem Einschnitt zwischen imperativischen Anreden und Wir-Bitten zusammen. Auch diese an zehn Fingern abzählbare Einteilung ist ähnlich wie beim Dekalog wohl didaktisch begründet.[6]
Die Matthäusfassung steht in der Mitte der Bergpredigt, die als Lehre Jesu seinem heilvollen Handeln vorangestellt ist (Mt 5,1f EU). Das Vaterunser konkretisiert Jesu Lehre vom Beten der Nachfolger (Mt 6,5–15 EU): Es soll sich von einer öffentlichen, wortreichen, auf Außenwirkung bedachten Art des Betens bei Pharisäern und Nichtjuden unterscheiden. Seine Grundlage ist die allem Beten vorlaufende Zusage in Mt 6,8 EU: „Euer Vater weiß, was ihr braucht, ehe ihr darum bittet.“ Darauf folgt die Aufforderung (Mt 6,9a EU): „Darum sollt ihr so beten: …“[7]
In der Lukasfassung folgt Jesu Gebetslehre auf ein eigenes Gebet Jesu und eine Bitte eines Jüngers (Lk 11,1–4 EU):
„Jesus betete einmal an einem Ort; als er das Gebet beendet hatte, sagte einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger beten gelehrt hat! Da sagte er zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht: Vater…“
Demnach gehörte die Anleitung zu einer bestimmten Gebetspraxis zu dem, was ein Jünger von seinem Meister erwartete. Offenbar lehrten Johannes und Jesus ihre Nachfolger jeweils besondere Gebete. Das Vaterunser war also ein Erkennungsmerkmal der Jesusnachfolger.
Dies bestätigen die Paulusbriefe in Gal 4,6 EU und Röm 8,15 EU:
„Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen, den Geist, der ruft: Abba, Vater.
Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, sodass ihr immer noch Furcht haben müsstet, sondern ihr habt den Geist der Kindschaft empfangen, in dem wir rufen: Abba, Vater!“
Die doppelte, aramäische und griechische Vater-Anrede spielt wahrscheinlich auf das Vaterunser an, zumal Jesus selbst Gott laut Mk 14,36 EU mit Abba anredete. Solche aramäischen Zitate übernahm Paulus von Tarsus aus der Jerusalemer Urgemeinde. Somit gehörte das Vaterunser zu deren Erkennungszeichen und wurde von den Urchristen als Gabe des Heiligen Geistes an die „Kinder Gottes“ verstanden.[8]
Die beiden Vaterunserfassungen gehören zu jenen Texten, die nur bei Mt und Lk vorkommen und dort großenteils wörtlich übereinstimmen. Die historisch-kritische NT-Forschung ordnet diese Texte der hypothetischen Logienquelle Q zu, also gemäß der Zweiquellentheorie der zweiten schriftlichen Vorlage von Mt und Lk neben dem Evangelium nach Markus.
Die Logienquelle enthält fast nur wörtliche Rede Jesu. Ihre ältesten Textbestandteile spiegeln die Situation missionierender Wanderprediger, die Jesus zu ihren Lebzeiten begegnet waren und seine Worte anfangs mündlich überliefert hatten. Darum führt die NT-Forschung einen Kern des Vaterunsers, der der älteren Lukasfassung nahekommt, auf Jesus selbst zurück.[9]
Ein Versuch, das Vaterunser dem historischen Jesus abzusprechen und auf eine bloße Bearbeitung jüdischer Gebete durch Urchristen zurückzuführen,[10] setzte sich vor allem wegen widersprüchlicher oder falscher Anwendung der Echtheitskriterien in der NT-Forschung nicht durch.[11]
Das Vaterunser knüpft an Gebetstraditionen des Judentums an. Die Anrede Gottes mit der Metapher „Vater“ ist im Tanach selten und bezieht sich im Gebetskontext vor allem auf Gottes fürsorgliches Erbarmen (etwa in Ps 103,13 EU).[12] Die schlichte „Vater“-Anrede war damals bereits im jüdischen Privatgebet üblich, jedoch nicht im Gottesdienst der Synagoge.[13] Die Anrede „Unser Vater im Himmel“ taucht auch in der damaligen Literatur der Tannaim (~0–200 n. Chr.) auf.[14]
Zu jedem Vaterunsersatz gibt es jüdische Vorbilder und Parallelen. Der Wunsch „Geheiligt werde Dein Name“ entspricht der ersten Bitte des Kaddisch: „Erhoben und geheiligt werde sein großer Name in der Welt…“ Analog zum nächsten Satz „Dein Reich komme“ folgt auch im Kaddisch: „…sein Reich erstehe in eurem Leben und in euren Tagen und dem Leben des ganzen Hauses Israel schnell und in naher Zeit.“ Auch die Berakhaformel (Lob- und Segensformel) der Liturgie des zweiten Jerusalemer Tempels verband die Heiligung des Gottesnamens mit dem (im Himmel schon ewig präsenten, auf Erden als Zukunft erwarteten) Reich Gottes: „Gepriesen sei der Name der Herrlichkeit seiner Königsherrschaft für immer und ewig.“ Sinngemäß erscheint die Bitte um das zukünftige Aufrichten der Königsherrschaft Gottes auch im Achtzehnbittengebet: „Bringe wieder unsere Richter wie vordem… und sei König über uns, Du allein.“[15]
Der Satz „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden“ knüpft an die biblische Vorstellung vom „Himmel“ als Bereich JHWHs an, in dem sein Wille schon herrscht. Laut Ps 103,19-21 EU führen die Engel diesen Willen widerspruchslos aus. So sollen auch die Menschen auf der Erde Gottes Willen erfüllen. Der biblischen Hoffnung auf Gottes Reich entspricht der Gehorsam gegenüber JHWHs Tora: Dies lehrten Rabbiner ebenso wie Jesus, etwa in einer Sifra zu Lev 18,2 EU und der Mischnah (Ber 2,2) zum Schma Jisrael. Dabei geraten die Tora-Befolger laut 2 Makk 15,1-5 EU unter Umständen in tödliche Konflikte mit irdischen Herrschern, die JHWHs Willen zynisch missachten und ihn aus der Welt ausgrenzen. Gehorsam gegenüber JHWH beinhaltet daher im Judentum wie im Urchristentum die Bereitschaft zum Konflikt mit der Staatsräson und den Widerstand gegen eine angebliche Eigengesetzlichkeit von politischer Macht.[16]
Es gibt aber auch wesentliche Unterschiede. Jüdische Gebete wurden in Hebräisch gesprochen, während Jesus das Vaterunser höchstwahrscheinlich in der Volkssprache Aramäisch lehrte. Die häufigsten Anreden JHWHs im Judentum waren „Herr“ oder „König der Welt“. Die von Jesus praktizierte – und seine Jünger gelehrte – Anrede war aramäisch Abba, zu übersetzen mit Vater oder lieber Vater.[17] Das war eine sehr vertrauliche Anrede. Man kann „mit dieser Formel die ganze urchristliche Theologie zusammenfassen“.[18] Die Gott so familiär Anredenden sind „Kinder Gottes“ (Röm 8,15–16 EU). Die Vorstellung vom himmlischen Vater ist frei zu halten von patriarchalischen Zerrbildern, wie sie sich durch menschliche Väter oft ergeben.[19] Neu war auch Jesu Aufforderung an den Betenden, seinerseits anderen Menschen zu vergeben, und die Verknüpfung dieser Bedingung mit der Bitte an Gott um Vergebung der eigenen Schuld. Auffallend ist schließlich die Kürze des Gebets.
Beide Vaterunser-Fassungen verwenden in der Brotbitte das Hapax legomenon epiousios und werden darum auf eine gemeinsame griechische Übersetzung einer aramäischen Originalfassung zurückgeführt.[20]
Manche Neutestamentler übersetzen die vorliegenden ältesten griechischen NT-Handschriften des Gebets in das Aramäische zurück, das Jesus von Nazaret selbst gesprochen hat. Sie versuchen damit, einen mutmaßlich historischen Wortlaut des Gebets zu rekonstruieren. Die Altphilologin Ursula Schattner-Rieser legte ihrer Rekonstruktion von 2019 die „mittelaramäische-palästinensische Phase“ von Texten aus Qumran zugrunde. Das Ergebnis unterscheidet sich in etlichen Details von anderen Rückübersetzungen.[21]
Vor allem die Römisch-Katholische Kirche verwendet die lateinische Übersetzung des Gebets nach der Vulgata:[22]
Pater noster, qui es in caelis:
sanctificetur nomen tuum.
Adveniat regnum tuum.
Fiat voluntas tua,
sicut in caelo, et in terra.
Panem nostrum supersubstantialem (cotidianum) da nobis hodie.
Et dimitte nobis debita nostra,
sicut et nos dimittimus debitoribus nostris.
Et ne nos inducas in tentationem,
sed libera nos a malo.
Amen.
Die evangelisch-lutherischen Kirchen folgen in der Regel der Lutherbibel, heute meist in der revidierten Fassung von 1984: Mt 6,9–13 LUT
Abschnitt | Gegenwärtige ökumenische Fassung (erarbeitet durch die ALT 1968) |
Frühere lutherische Fassung (Evangelisches Kirchengesangbuch 1950) |
Frühere römisch-katholische Fassung (Schott-Messbuch von 1930) |
Frühere alt-katholische Fassung (Gesangbuch von 1965) |
---|---|---|---|---|
Bitten |
Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. |
Vater unser, der du bist im Himmel, geheiliget werde dein Name. |
Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name; |
Vater unser, der Du bist im Himmel. Geheiliget werde Dein Name. |
Dein Reich komme. |
Dein Reich komme. |
zu uns komme Dein Reich; |
Zu uns komme Dein Reich. | |
Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. |
Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden. |
Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden! |
Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden. | |
Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. |
Unser täglich Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern. |
Unser tägliches Brot gib uns heute; und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern; |
Unser tägliches Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. | |
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.[23][24] |
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. |
und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. |
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. | |
Embolismus | (Nur in manchen liturgischen Traditionen, siehe Embolismus.) | |||
Doxologie | Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. | Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. | ||
Akklamation | Amen. | Amen. | Amen. | Amen. |
In den reformierten Kirchen lautet die Anrede: „Unser Vater“, der übrige Text ist gleich.[25] In der Neuapostolischen Kirche wird neben der Anrede auch der zweite Satz umgestellt: „Dein Name werde geheiligt“. Darin folgt sie der Lutherbibel von 1984.
Der Plural der Anrede Gottes im griechischen Urtext ἐν τοῖς οὐρανοῖς („in den Himmeln“) geht wohl auf das hebräische Wort für Himmel שָׁמַיִם (schamayim) zurück, dessen Endsilbe „-im“ stets eine Mehrzahl bedeutet. Demgemäß übersetzt die Vulgata das Wort in der Anrede mit dem Plural in caelis („in den Himmeln“), in der Willensbitte mit dem Singular in caelo („[wie] im Himmel…“). Demgemäß unterscheiden auch französische Bibelübersetzungen hier zwischen „aux cieux“ und „au ciel“. Doch schon der um 800 erstellte St. Gallener Katechismus, der das früheste deutschsprachige Vaterunser enthält, übersetzte die Anrede singularisch („Fater unseer, thu pist in himile“).[26] Dem folgen die meisten heutigen deutschen Bibelübersetzungen; eine Ausnahme bildet die Elberfelder Bibel. Auch das englische Vaterunser verwendet zweimal den Singular „in heaven“.
Bei der Brotbitte spricht die griechische Urfassung vom ἄρτος ἐπιούσιος, also vom „ausreichenden Brot“ oder dem Brot für diesen (und den nächsten) Tag: „Das für uns ausreichende Brot gib uns heute.“ Die Vulgata übersetzt dasselbe Wort epiusios unterschiedlich: Lk 11,3 „Panem nostrum cotidianum da nobis cotidie“,[27] Matthäus 6:11 „Panem nostrum supersubstantialem[28] da nobis hodie.“[29] Im liturgischen Gebrauch war immer[30] die Formulierung „panem quotidianum (cotidianum)“ – „das tägliche Brot“ – üblich.
Bei der Bitte um Vergebung folgen die Übersetzungen nicht den ältesten Handschriften, sondern dem Mehrheitstext bzw. der Lukasfassung. Sie schreiben: „wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ (ἀφιομεν, Präsens). Ursprünglich stand bei Matthäus aber sehr wahrscheinlich die Verbform ἀφήκαμεν (aphēkamen, eine Form des Aoristes): „wie wir vergeben haben“. Das bedeutet für den Betenden, dass er nicht um Vergebung bitten solle, wenn er selber diesen Schritt noch nicht getan hat, denn – so fährt das Matthäusevangelium fort – „wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, wird auch euer Vater im Himmel euch eure Verfehlungen vergeben. Wenn ihr aber den Menschen ihre Verfehlungen nicht vergebt, wird auch euer Vater im Himmel euch eure Verfehlungen nicht vergeben.“ (Mt 6,14 15)
Die Bitte um Bewahrung vor Versuchung nennt Gott als Subjekt und wird meist mit „Und führe uns nicht in Versuchung“ übersetzt. Manche deutschen Bibelexegeten übersetzten sie seit den 1960er Jahren sinnerfassend mit „Und lass uns nicht in Versuchung geraten“.[31] 2013 beschlossen die katholischen Bischöfe Frankreichs, diese Übersetzung zum 1. Advent 2017 in Frankreich einzuführen. Papst Franziskus unterstützte sie dabei und kritisierte die traditionelle Übersetzung: Nicht Gott, sondern Satan führe den Menschen in Versuchung. Die reformierten Kirchen der Schweiz und die Schweizerische Evangelische Allianz wollten die Änderung bis Ostern 2018 übernehmen.[32] Die Vereinigte Protestantische Kirche Frankreichs hatte die Änderung von Ne nous soumets pas à la tentation („Unterwirf uns nicht der Versuchung“) in Ne nous laisse pas entrer en tentation („Lass uns nicht in Versuchung eintreten“) schon 2016 beschlossen, um das Vaterunser weiter mit Katholiken gemeinsam beten zu können.[33] Ab November 2020 änderte auch die katholische Kirche in Italien den Wortlaut von non ci indurre in tentazione („Führe uns nicht in Versuchung“) auf non abbandonarci alla tentazione („Überlasse uns nicht der Versuchung“).[34] Die spanische Fassung lautete schon seit dem 16. Jahrhundert no nos dejes caer en la tentación („Lass uns nicht in Versuchung fallen“).[35]
Die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) lehnte die Änderung im Januar 2018 dagegen ab, um nicht in den griechischen Originaltext einzugreifen und den im gesamten deutschen Sprachraum einheitlichen Gebetstext zu bewahren. Die Bitte drücke das Vertrauen in Gott aus, uns vor Versuchung zu bewahren, nicht das Gegenteil.[36] Auch EKD-Vertreter sahen keinen Änderungsbedarf.[37] Der evangelische Theologe Thomas Wagner kritisierte den Papst-Vorschlag als „konfessionelle Exegese“.[38] Sein Kollege Thomas Söding betonte: „Wer mit den Worten Jesu beten will, hält sich am besten ans Neue Testament“. Bischof Rudolf Voderholzer warnte vor einer „Verfälschung der Worte Jesu“, die Mt und Lk hier einheitlich überlieferten. Man müsse sie so erklären, „dass das Gottesbild nicht verdunkelt wird“.[32]
Der Lobpreis ὅτι σοῦ ἐστιν ἡ βασιλεία καὶ ἡ δύναμις καὶ ἡ δόξα εἰς τοὺς αἰῶνας. ἀμήν bzw. Quia tuum est regnum et potestas et gloria in saecula. („Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit“) findet sich erst in späteren Handschriften; er lehnt sich an ein Dankgebet des Königs David an (1 Chr 29,11 EU).
Das Vaterunser erhielt früh einen festen Platz in der urchristlichen Gottesdienstliturgie. Gemäß der Didache 8,2f sollten Christen es auch privat dreimal am Tag beten.
In der katholischen Kirche ist das Vaterunser Bestandteil der heiligen Messe, des Stundengebets der Laudes und der Vesper sowie des Rosenkranzgebets.[39] Auch in den evangelischen Kirchen in Deutschland gehört es als fester Bestandteil zum Gottesdienst. Die Kapitularien Karls des Großen ordneten an, dass jeder Christ es auswendig hersagen können sollte. Wer dies nicht vermochte, sollte nicht als Pate (Taufzeuge) zugelassen werden.
In der orthodoxen Kirche wird die Doxologie im Gottesdienst vom Priester gesprochen, im privaten Gebrauch ganz weggelassen. Diese Praxis war auch in der römisch-katholischen und der altkatholischen Kirche vor der Liturgiereform verbreitet. Bei der Feier der heiligen Messe nach dem Missale Romanum von 1962 werden die ersten Bitten des Vaterunsers vom Zelebranten gebetet; nur die letzte Bitte wird von allen gemeinsam gesprochen, auf die dann der Embolismus mit der Doxologie folgt.
In der heiligen Messe findet sich zwischen den Bitten und der Doxologie der Embolismus, den der Priester vor dem Schlussvers singt oder spricht, um die vorangegangenen Bitten zu vertiefen und zusammenzufassen:
„Erlöse uns, Herr, allmächtiger Vater, von allem Bösen und gib Frieden in unseren Tagen. Komm uns zu Hilfe mit deinem Erbarmen und bewahre uns vor Verwirrung und Sünde, damit wir voll Zuversicht das Kommen unseres Erlösers Jesus Christus erwarten.“
Auslegungen des Vaterunsers sind seit dem ersten lateinischen Kirchenschriftsteller Tertullian (* nach 150) in vielfältiger Weise erschienen. Ein Beispiel ist eine Auslegung in Versform in einer bairischen Exegese des 12. Jahrhunderts im Versmaß des Septenar.[40]
Das Vaterunser wurde in der Kirchengeschichte und der profanen Musikgeschichte oft und auf verschiedene Weisen musikalisch vertont.
In der Liturgie werden unter anderem folgende Kompositionen und traditionelle Melodien verwendet:
Eine der gregorianischen Melodien des lateinischen Gebets des Herrn (toni Orationis Dominicae) |
Quelle: Gotteslob (1975) Nr. 378 |
Messgesang Vater unser |
Quelle: Gotteslob (1975) Nr. 362 |
Werke für Chor (und Orchester) im Stile einer Motette, einer Kantate oder eines Oratoriums stammen von
Als Werk für Orgel kommt das Gebet ebenfalls in der Musikgeschichte vor, unter anderem:
Kompositionen zum Vaterunser für symphonisches Orchester stammen von:
In der Klangsprache der elektronischen Musik des 20. und 21. Jahrhunderts erklingt das Gebet beim Song Vater Unser von E Nomine (1999).
Volkslied- oder Schlager-artige Vertonungen stammen etwa von:
In der Rock- und Popmusik wurde das Vaterunser vertont von:
Ausgehend vom Kommentar des Augustinus zur Bergpredigt wurde das Vaterunser in sieben Bitten eingeteilt. Ein solches Vaterunser-Septenar wurde mit anderen Septenaren in Beziehung gesetzt: den Seligpreisungen, den Gaben des Hl. Geistes, den Tugenden, den sieben Leiden Christi, den sieben Lastern und anderen mehr.
Graphisch wurden die Septenare in sogenannten figurae dargestellt, Abbildungen, die in Form eines Rades (rota), eines Baumschematas (arbor), in tabellarischen Darstellungen (scalae) oder auch in der Anordnung einer Perlenschnur die Septenare auf einem Blatt übersichtlich geordnet darstellten. „Dem liegt die Auffassung zugrunde, die Schöpfung folge einer Ordnung.“[42]
„Im Bereich bebilderter Vaterunser-Erklärungen ist die Rota die bevorzugte […] Figura.“[43] Die in ihnen vorgenommene Anordnung der Vaterunser-Bitten wird als Erzeugung einer „ordo“ verstanden, so dass „die Bitten – entsprechend dem Gedanken eines Aufstiegs – in entgegengesetzter Anordnung zum Bibeltext präsentiert sind.“[44]
Die älteste Rota[45] ist ein Blatt aus einem Lukas-Evangeliar, das ursprünglich aus der Benediktinerabtei von Wissembourg im Elsass stammt und sich jetzt in der Herzog-August-Bibliothek von Wolfenbüttel befindet. Rotas konnten in der Folge aber auch sehr stark ausgearbeitet werden und so umfangreiche Inhalte transportieren. Ein Beispiel dafür sind die „Dominicae orationis et quatuor temporum declaratio“.[46] Diese Rota zeigt „einen Heilsweg, der mit den Bitten des Vaterunsers weg von den Lastern durch den Empfang der Geistesgaben hin zu den Tugenden und schließlich zu den Seligkeiten der Bergpredigt führt.“[47] „Der individuelle Heilsweg der Rota ist von dem übergeordneten Weg der Heilsgeschichte umrahmt.“[48]
Arbores, die die sieben Bitten des Vaterunsers enthalten, sind erst ab Mitte des 14. Jahrhunderts bekannt. In den schematischen Darstellungen der Gebetsschnüre werden die Vaterunser-Bitten häufig mit Erläuterungen versehen.
Figurae jeglicher Form stellten mnemotechnische Hilfsmittel dar: „Darumb ist dies figur zu einer gedachtnüsz gemacht, das man dar ausz lerne und betracht.“[49] Rotae und arbores eigenen sich auch als Predigthilfe, zur Unterrichtung der Laien in Predigt und Unterricht; die Perlenschnüre waren vielfach eine Stütze im Gebet.
Eine Veränderung tritt mit dem Werk „Somme le Roi“ein, in dem zum ersten Mal allegorische Darstellungen verwendet werden: Junge Frauen stehen für die Bitten des Vaterunsers. Mithilfe der Quellen des Hl. Geistes verhelfen sie Bäumen zu Wachstum und Gedeihen, die selbst wiederum für das Erlangen von Tugenden stehen.[50]
Bebilderte Ausgaben eines Vaterunser-Zyklus gibt es dann mit den Blockbuchausgaben, so dem „Exercitium super Pater noster“.[51] Hierbei handele es sich um die frühesten Beispiele für Bilder zu jeder Gebetsaussage, die sie erläuterten und so eine eigenständige, geschlossene, allegorische Bilderzählung lieferten.[52]
„Mit der Reformation … blieb zwar die Siebenteilung der Vaterunserbitten erhalten, die Zuordnung weiterer Septenare fand jedoch – auch auf Seiten der Gegenreformation – weitgehend ein Ende.“[53]
Von 1500 bis etwa 1550 schufen Daniel Hopfer, Hans Holbein der Jüngere und Lucas Cranach der Ältere Druckwerke zum Vaterunser. Dabei beziehen sich die motivgleichen Darstellungen von Holbein und Hopfer zum Teil auf biblische Szenen wie das Pfingstfest (dein Reich komme) oder das Kreuztragen Jesu (dein Wille geschehe). Andere Drucke sind realitätsnah auf Szenen aus der eigenen Gegenwart bezogen: die Speisung einer großen Menschenmenge mit Bierkrug und Haxe, die Begegnung Jesu mit den Gefolterten im Folterkeller, die Vernichtung von Leben durch Krieg, Feuer, Pest und Begierde sowie die Hoffnung auf Erlösung angesichts des Trauerns am offenen Grab.
Im Unterschied dazu sind die Stiche von Lucas Cranach[54] im Geiste der Reformation noch deutlicher an der Bibel orientiert. Die Vaterunser-Aussagen werden durch biblische Szenen illustriert, sei es durch die Parabel des unbarmherzigen Dieners (vergib uns unsere Schuld) oder das Gleichnis von der kanaanäischen Frau, die um Erlösung vom Übel bittet. „Die Taten Christi zeigen auf, wie die Inhalte der einzelnen Bitten praktisch umgesetzt werden können. Die Illustrationen verdeutlichen die heilsgeschichtliche Bedeutung des Vaterunsers und haben lehrhaften, unterweisenden Charakter. Dies unterstreicht auch die Darstellung der Bitte „geheiligt werde dein Name“ durch eine Predigtszene.“
In den nachfolgenden Jahrhunderten findet das Vaterunser als Thema in der Kunst keine Beachtung. Erst infolge der Umbrüche des Ersten Weltkriegs fertigt Max Pechstein 1921 seine Holzdrucke zum Vaterunser an.[55] Der harte Kontrast von Schwarz und Weiß, die eckigen Konturen des Expressionisten unterstreichen den appellativen Charakter der Bilder, die im Gegenwartsbezug der Szenen eine soziale Komponente aufweisen. So gibt es zu den Vaterunser-Bitten zum Thema Schuld und zum Thema Versuchung je zwei Bilder, was den aktuellen Problemen der Menschen der Nachkriegszeit Rechnung trägt.
Die Kombination von Text und Bild in intensiver szenischer Zuordnung führte zu einer intensiven religiösen Ausdruckskraft.[56] Die zentrale Rolle Gottvaters wird dadurch unterstützt, dass die entsprechenden Bilder koloriert sind und der Doxologie mit drei Bildern mehr Raum gegeben wird.
Die Moderne verabschiedet sich vom Bezug auf konkrete Bibelstellen. Auch der Gegenwartsbezug auf individuelle Lebenssituationen fehlt. Zeitgenössische Vaterunser-Zyklen von Siegfried Angermüller, Henning Diers, Andreas Felger, Jörgen Habedank und Alois Plum benutzen in ihren Gemälden und Fenstern Farbe und Form als Ausdrucksmittel.
Siegfried Angermüller stellt das Vaterunser-Gebet mit Hilfe von archaischen Formen und symbolhaften, hellen, warmen Farben dar. Das vollkommene Rund des Göttlichen begegnet dem Kosmos, teilt sich als Brot mit. Die Spirale der Gewalt und weitere Elemente können ebenso wie die Farbzuweisung vom Betrachter ganz individuell interpretiert werden.[57]
Henning Diers wendet bei seinen großformatigen Vaterunser-Bildern 2012 eine Mischtechnik mit Acryl, Lack, Öl an und benutzt – auch unter Verwendung von Blattgold – ein Farbspektrum von Gold-, Braun- und Grautönen.[58] In abstrakten Darstellungen stellt er Gott ins Zentrum oder als Zielpunkt des Geschehens dar, verschenkt das tägliche Brot in vielerlei Formen, schüttet die Wogen der Vergebung über die Treppe der Schuld aus und verbindet das Reich Gottes mit der Kraft der Liebe, die Kraft Gottes mit der Zartheit der Natur und arbeitet wie Max Pechstein die Doxologie in mehreren Bildern aus.
Im Vaterunser-Zyklus von Andreas Felger beruhen die Bildzeichen „auf einem äußerst reduzierten Formvokabular, das einen Resonanzraum für subjektive Empfindungen und Deutungen bietet und zugleich so allgemein (verständlich) bleibt, dass jede und jeder angesprochen werden kann.“[59]
Mit einer „Grundoffenheit für das Meditative im Bild“ illustriert Jörgen Habedank seine Bilder zum Vaterunser.[60] In ihrer assoziativen Form- und Farbgebung bieten sie eine offene Interpretation an, die zu tieferem Verstehen und zu Meditation führt. Das Blau steht dabei genauso für den Gott des Kosmos wie das Gold für die Farbe seiner Kraft und Herrlichkeit. Wenige ikonographische Zitate wie das des Christus am Kreuz (dein Wille geschehe), des Brotes und der Hostie (Brotbitte) sowie das Schwarz-Weiß von Täter und Opfer (Vergebungsbitte) bieten eine Orientierung im Bild.
Die satten, opaken Fenster von Alois Plum in der Pfarrkirche St. Bartholomäus in Kaiserslautern-Morlautern tragen Farben in symbolischer Bedeutung:[61] Das Gold steht für das Göttliche, seine Einzigartigkeit, seine Schöpferkraft im Blau des Universums. Sie steht für eine Wirklichkeit, die hinter und über der Erde existiert und die in Kombination mit dem Rot der Liebe mit dieser Welt kommuniziert. Als einziges konkretes Element steht die Ähre im Braun der Erde für das tägliche Brot. Das dunkle Rot der Schuld ist begleitet vom umgebenden Lila der Vergebung. Ein schwarzer Weg, auch als Turm der Versuchung interpretierbar, verengt sich, führt ins Nichts. Aber hinter der Ausweglosigkeit leuchtet doch das Gold, ist Gott da. Schließlich mündet alles in das Fenster zur Doxologie, in dem zwölf Sterne gleichsam tanzen, ein Bezug zu den Verheißungen in der Offenbarung des Johannes.
Exegese
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