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Mit dem Begriff Orientalismus bezeichnete Edward Said in seinem zuerst 1978 erschienenen Werk Orientalism (deutscher Titel: Orientalismus) einen eurozentrischen, westlichen Blick auf die Gesellschaften des Nahen Ostens bzw. die arabische Welt als einen āStil der Herrschaft, Umstrukturierung und des AutoritƤtsbesitzes Ć¼ber den Orientā.[1] Dieses Denken drĆ¼cke ein ĆberlegenheitsgefĆ¼hl gegenĆ¼ber dem Orient aus und sei ein Teil der modernen politischen und intellektuellen Kultur unserer Gegenwart. Es stelle sich als Diskurs dar, in dem der āaufgeklƤrte Westenā den āmysteriƶsen Orientā ebenso sehr verhandele wie beherrsche, und zeichne sich durch die ungebrochene Tradition einer tief sitzenden Feindseligkeit gegenĆ¼ber dem Islam aus. In seiner Studie beschrƤnkt Said seine Kritik des āakademischen Orientalismusā, d. h. des akademischen Fachs Orientalistik bzw. Islamwissenschaft, auf das ausgehende 19. und frĆ¼he 20. Jahrhundert. Seine Thesen, in denen er sich auf das Diskurskonzept von Michel Foucault stĆ¼tzt, haben seither fĆ¼r heftige Kontroversen gesorgt.
Kritik an orientalistischen Positionen hat es schon lange vor Saids Verƶffentlichungen gegeben. So hat NĆ¢zım Hikmet 1925 gegen die romantisierenden und exotistischen Positionen des franzƶsischen āTĆ¼rkeiliebhabersā Pierre Loti gedichtet:
āDas ist der Orient, wie ihn der franzƶsische Dichter sah! Das ist der Orient der BĆ¼cher, von denen pro Minute eine Million gedruckt werden! Doch es gab weder gestern, noch gibt es heute so einen Orient und es wird ihn auch morgen nicht geben!ā[2]
Mit Hilfe der AnsƤtze von Michel Foucault analysiert Said Werke britischer und franzƶsischer[3] Wissenschaftler und Schriftsteller. Sein Anliegen ist es zu zeigen, dass es in deren Arbeiten nicht um eine objektive Betrachtung der islamischen oder āorientalischenā Welt gehe, ja dass vielmehr das Konzept des Orients als solches bereits ein westliches, d. h. orientalistisches Konstrukt sei. Zudem drĆ¼cke sich in den Arbeiten ein kolonialistischer Ansatz aus, der dem MachtverhƤltnis zwischen Kolonialisten und Kolonialisierten entspreche.
Westliches Denken sei geprƤgt davon, Definitionen mittels der GegenĆ¼berstellung von GegensƤtzen herzustellenĖ WƤhrend der āWestenā als ādieā Zivilisation an sich angesehen werde, erscheine der Orient mysteriƶs und bedrohlich. Der Orient werde in diesem Spiel der Differenzen auch mit scheinbar positiven Zuschreibungen wie āspontanā, āluxuriƶsā und āmystischā besetzt, die bei genauerer Betrachtung jedoch wieder den Orient in ein Machtsystem drƤngten, das ihn im Gegensatz zum Okzident als rĆ¼ckstƤndig konstituiere.[4] Denn in den scheinbar positiven Zuschreibungen steckten implizite Annahmen, wie dass der Orient mystisch sei, im Gegensatz zum scheinbar wissenschaftlichen Okzident. Durch diese Aspekte werde der Orientalismus zu einer spezifischen Form des Othering.
Durch Herrschaftswissen sƤhen sich westliche Autoren in der Lage, die Situation und die Menschen des Orients zu definieren, und nƤhmen ihnen damit ihr Selbstbestimmungsrecht. Aus dieser Definitionsmacht resultierten exotistische, kulturalistische und auch offen rassistische Bilder, welche der Legitimierung der Kolonialisierung des Orients dienten.
Gegen die Analyse Saids wurde vorgebracht, dass sie sowohl in methodischer als auch in inhaltlicher Hinsicht Schwachstellen aufweise, etwa hinsichtlich der mangelnden geographischen Spezifizierung oder auch hinsichtlich der fehlenden zeitlichen Eingrenzung.
Hier hat beispielsweise Carl W. Ernst angesetzt, indem er in seinen Ćberlegungen zum VerhƤltnis von āWestenā und āIslamā versucht, zwischen die Konzepte Okzidentalismus und Orientalismus zu gelangen: āIt is time to move beyond both Occidentalism and Orientalism.ā[5] Ernst versucht, das VerhƤltnis ohne die aufgeladenen Begriffe neu zu rekonzeptualisieren, wobei er zunƤchst das vermeintliche Gegensatzpaar der Konzepte dekonstruiert: āThe fact is that, both historically and in contemporary times, Muslims have played significant roles in relation to both America and Europe. In short, the opposition between āthe Westā and Islam is considerably overstated.ā[6] Im Anschluss daran geht es ihm um die Frage, wie sich die beiden Konzepte partikularisieren lassen, indem spezifische landestypische und regionale Merkmale herausgearbeitet werden. Regionen und Geschichte wĆ¼rden dabei Korrektive fĆ¼r das dualistische Denken in diesen Konzepten darstellen. Sobald nƤmlich der ideologisch geprƤgte Raum des Denkens verlassen werde und konkrete Beispiele in den Blick genommen werden, werde die Dichotomie aufgebrochen. Auf der inhaltlichen Ebene sei die homogene Darstellung des orientalistischen Diskurses problematisch, da dadurch die Unterscheidung zwischen Orient und Okzident, die es aufzuheben gelte, zementiert und dabei bestƤndig ein realer Orient impliziert werde.
Neuere Fallstudien wie diejenigen von Urs App zeigen, dass religiƶse und weltanschauliche Ideologien von Orientalisten oft eine viel wichtigere Rolle spielten als Kolonialismus und Imperialismus und dass der āOrientā viel weiter gefasst werden mĆ¼sste als dies bei Said und seinen Epigonen der Fall war.[7]
Historisch blendete Said aus, dass weite Teile der islamischen arabischen LƤnder erst nach dem Ersten Weltkrieg in westliche quasi-kolonialistische AbhƤngigkeiten gerieten, wƤhrend sie vorher zum Osmanischen Reich gehƶrten, das wie vorher der arabisch-islamische Expansionismus europƤischen MƤchten als imperialistische Sklavenhaltergesellschaft nicht nachstand und wegen seiner kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen vom Westen bewundert und als Gegner gefĆ¼rchtet wurde.
Die Historiker Joshua Teitelbaum und Meir Litvak kritisieren, dass Said einerseits den Orient als bloĆes Konstrukt darstelle, das in der RealitƤt gar nicht existiere, andererseits beschreibe er eine seit der griechischen Antike bestehende Beziehung zwischen diesem und dem Westen, ganz als ob beides historisch reale Wesenheiten wƤre. Said etabliere dadurch eine āfalsche Dichotomieā: Er schildere Ost und West āin derselben essenzialistischen und ahistorischen, unverƤnderlichen Weise, gegen die er anschreibtā. Insofern sei der Schaden, den das Buch angerichtet habe, mindestens ebenso groĆ wie sein Nutzen.[8]
Saids Arbeit ist eine wichtige Grundlage fĆ¼r die postkoloniale Wissenschaft, die mit seinem Ansatz bisherige wissenschaftliche Erkenntnisse auf ihren ideologischen Gehalt hin untersucht und an verschiedenen Beispielen aufzeigen kann, wie stark das VerhƤltnis zwischen Europa und anderen Regionen ā wie dem Balkan, Indien oder China ā von kolonialistischen Annahmen geprƤgt wird. Andere Studien belegen, dass Prozesse der Orientalisierung und Auto-Orientalisierung fortschreiten, dass Orient auch vom Orient selbst konstruiert wird.[9][10]
Im Anschluss an Said entwickelte sich seit Mitte der 1990er Jahre eine lebhafte Diskussion unter SĆ¼dosteuropa-Wissenschaftlern, inwieweit Saids Thesen fĆ¼r die Erforschung der Wahrnehmung des Balkans relevant und zutreffend seien. Unter dem Stichwort des āBalkanismusā (Balkanism) wurde diese Diskussion v. a. von Maria Todorova[11][12][13] und Andrew Hammond[14][15] angestoĆen und ist bis jetzt noch nicht abgeschlossen. Todorova plƤdiert in ihren Schriften dafĆ¼r, den westlichen Balkanismus als ein vom herkƶmmlichen āOrientalismusā wenig abhƤngiges, diesem vielleicht sogar entgegenstehendes Konzept zu deuten, zumal der Balkan typischerweise eine Mittelposition zwischen Okzident und Orient einnehme. Dieser EinschƤtzung wurde jedoch von anderen ganz oder in Teilen widersprochen, namentlich von Mary C. Neuburger[16] und Diana Mishkova[17].
Saids Konzept wurde inzwischen auch auf andere auĆereuropƤische Kulturen angewandt. So hat Hans-Peter Rodenberg[18] dargelegt, wie das Bild des nordamerikanischen Indianers den jeweiligen legimatorischen BedĆ¼rfnissen zunƤchst der kolonialen, dann der sich herausbildenden US-amerikanischen Gesellschaft gefolgt ist. Donald Sewell Lopez Jr.[19] und Volker Zotz[20] haben die westliche BeschƤftigung mit dem Buddhismus im Hinblick auf westliche Projektionen untersucht.
Saids Werk wurde in verschiedene Sprachen Ć¼bersetzt, darunter neben zahlreichen europƤischen Sprachen auch Japanisch, Koreanisch und HebrƤisch. Die arabische Ćbersetzung stammt von Kamal Abu Deeb, einem syrischen Dichter.[21] 2009 erschien bei S. Fischer eine von Hans GĆ¼nter Holl besorgte NeuĆ¼bersetzung ins Deutsche.